7. März 2021
Steppenwolf meets Mozart

Wiederentdeckt: Ein Buch für Allah und Kain.

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Er hob die Hände, als dirigiert er, und ein Mond oder sonst ein bleiches Gestirn ging irgendwo auf, über die Brüstung blickte ich in unmeßbare Raumtiefen, Nebel und Wolken zogen darin, Gebirge dämmerten und Meergestade, unter uns dehnte sich weltenweit eine wüstenähnliche Ebene. In dieser Ebene sahen wir einen ehrwürdig aussehenden alten Herrn mit langem Barte, der mit wehmütigem Gesicht einen gewaltigen Zug von einigen zehntausend schwarzgekleideten Männern anführte. Es sah betrübt und hoffnungslos aus, und Mozart sagte:
„Sehen Sie, das ist Brahms. Er strebt nach der Erlösung, aber damit hat es noch eine gute Weile.“
Ich erfuhr, daß die schwarzen Tausende alle die Spieler jener Stimmen und Noten waren, welche nach göttlichem Urteil in seinen Partituren überflüssig gewesen wären.
„Zu dick instrumentiert, zuviel Material vergeudet“, nickte Mozart.
Und gleich darauf sahen wir an der Spitze eines ebenso großen Heeres Richard Wagner marschieren und fühlten, wie die schweren Tausende an ihm zogen und sogen; müde mit Duldnerschritten sahen wir auch ihn sich schleppen.
„In meiner Jugendzeit“, bemerkte ich traurig, galten diese beiden Musikanten für die denkbar größten Gegensätze.“
Mozart lachte.
„Ja, das ist immer so. Aus einiger Entfernung gesehen, pflegen solche Gegensätze einander immer ähnlicher zu werden. Das dicke Instrumentieren war übrigens weder Wagners noch Brahms‘ persönlicher Fehler, es war ein Irrtum ihrer Zeit.“

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Hermann Hesse, Der Steppenwolf, 1927 (Suhrkamp TB 1975 S 263 ff)

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Bild: Vanilla (Flur im Immanuel Klinikum Wannsee, Architekt: Legiehn)